Aminata Touré: „Man bekommt ja das Gefühl, dass ganz Afrika in Europa einmarschieren würde, was natürlich völlig falsch ist.“
GP Podcast über Migration und Frieden
Aminata Touré ist eine senegalische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin. Sie war von 2013 bis 2014 Premierministerin des Senegals und in verschiedenen Positionen bei dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) tätig. Während ihrer Zeit als Justizministerin setzte sie sich besonders gegen Korruption ein und leitete später mehrere Wahlbeobachtungsmissionen zu den Präsidentschaftswahlen. Außerdem liegt ihre Expertise im Bereich von Wirtschaft, Good Governance und Gender.
Die simbabwische Rechtsanwältin Ottilia Anna Maunganidze ist Expertin für Strafrecht, Menschenrechte, Frieden und Sicherheit sowie freie Autorin und Referentin. Zudem leitet sie die Abteilung für Sonderprojekte des Institute for Security Studies, einem Thinktank mit Sitz in Pretoria. 2017 wurde Ottilia Anna Maunganidze von der Münchner Sicherheitskonferenz und der Körber-Stiftung als eine von 25 Munich Young Leaders ausgewählt.
Aufnahme des Podcasts
In unserer neuen Folge des The Africa Roundtable – der Podcast geht es um die Gründe von Migration, die Rolle afrikanisch-europäischer Partnerschaften, die mögliche Umgestaltung der Migrationspolitik und die Verantwortung des globalen Nordens.
Lesen Sie die vollständige Übersetzung des Podcasts hier:
GPI: Mimi, ich möchte Sie zunächst einem breiten Publikum vorstellen. Ich freue mich, die ehemalige Premierministerin des Senegals, Aminata Touré begrüßen zu dürfen. Sie sind eine der Frauen auf dem Kontinent, die eine Vorreiterin war… Aber, lassen Sie uns zunächst über Migration sprechen. Mimi, wie Sie von vielen im Senegal liebevoll genannt werden, ich habe mich gefragt, was aus Ihrer Sicht die Gründe für Migration in Afrika sind, woran denken Sie da? Viele Menschen wandern ja zunächst innerhalb des Kontinents, bevor sie überhaupt daran denken, Afrika zu verlassen. Aber was sind die sogenannten Push-Faktoren, die Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen?
Touré: Zunächst einmal möchte ich mich für das Interview bedanken, das es zu diesem sehr wichtigen Thema gab, das sich in eine Debatte verwandelt hat, die nicht mehr auf Zahlen basiert. Es ist mir also wichtig, dass wir zu den Fakten zurückkehren, denn man bekommt ja das Gefühl, dass ganz Afrika in Europa einmarschieren würde, was natürlich völlig falsch ist. Aber dieses Bild wird natürlich von einigen politischen Gruppen für ihre eigenen politischen Interessen aufgebaut. 70 Prozent der Afrikaner suchen innerhalb Afrikas nach einem neuen Leben, sie wandern von Westen nach Osten oder in die Mitte. Die Zahl der Menschen, die nach Europa einwandern, ist dagegen sehr gering. In Italien zum Beispiel machen sie nur acht Prozent der Migrantenbevölkerung aus, weit weniger als die Europäer selbst oder die Menschen aus Asien. In Deutschland sind es sogar noch weniger als acht Prozent. Möglich, dass sie wegen ihrer Hautbarbe mehr auffallen, das ändert aber nichts an den Zahlen. Das sagen also die Zahlen. Und wir sollten nicht vergessen, dass wir mehr als 250 Millionen internationale Migranten haben. Was im Fernsehen gezeigt wird, entspricht also oft nicht der Realität. Das müssen wir laut und deutlich sagen. Wir sollten also nicht die Angst vor einer afrikanischen Invasion in Europa schüren, die findet nämlich nicht statt. Und das wollen wir auch gar nicht. Wir wollen unsere eigene Bevölkerung hier auf dem Kontinent halten, weil wir sie brauchen. Das Durchschnittsalter in Afrika bei 20 Jahren. In Europa liegt es bei 42 Jahren. Wir sind also 22 Jahre jünger als die europäische Bevölkerung. Das sehen wir als großen Vorteil an, und wir wollen nicht, dass unsere jungen Leute das Meer überqueren müssen. Wir brauchen sie ganz einfach, um unseren Kontinent aufzubauen. Wir haben 200 Millionen junge Menschen, und das ist ein großer Gewinn für die Entwicklung unserer Wirtschaft, unserer Kultur. Für diejenigen, die nicht wollen, dass sie kommen, habe ich übrigens eine gute Nachricht. Wir wollen unsere jungen Leute nicht nur behalten, wir wollen auch, dass klügsten jungen Leute, die jetzt in Europa sind, zurückkommen. Das ist unser Ziel. Aber die Debatte über die Einwanderung hat inzwischen auch eine rassistische Komponente, und dass, obwohl Europa zusätzliche Arbeitskräfte dringend braucht. Ich denke, es liegt im Interesse Europas, eine gesunde Debatte über Migration zu führen.
GPI: Da wir gerade dabei sind, denke ich an junge Afrikaner, junge Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, sondern dort bleiben wollen, wo sie sind. Sie wollen ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Wir hören von jungen Menschen, die sich an afrikanischen Staatschefs wandten und sagten, dass sie sich eine Zukunft auf dem Kontinent wünschen. Es war nicht unbedingt ihr angeborener Wunsch, ins Ausland zu gehen. Darum die Frage an Sie, wie wir eine bessere Zukunft für junge Afrikaner sichern können. Wie können wir die Strukturen und Sicherheit schaffen, die junge Menschen brauchen? Und gibt es dafür Raum für eine Partnerschaft mit den Europäern? Also, eine EU-Jugendpartnerschaftsebene etwa? Und wie sieht sie aus, wenn es darum geht, ein besseres Afrika aufzubauen, damit junge Menschen nicht gezwungen sind, sich ein Leben außerhalb von Afrika zu suchen?
Touré: Nun, das ist es, was wir als Entscheidungsträger zu tun versuchen. Erinnern wir uns daran, dass wir vor COVID ein sehr hohes Wirtschaftswachstum hatten. Im Senegal lag es bei sechseinhalb Prozent, und in anderen Teilen des Kontinents geht es uns gut. Und ich fordere alle europäischen Medien auf, darüber auch zu berichten; darüber, was in Afrika funktioniert. Sie neigen dazu, sich auf das zu konzentrieren, was schlecht läuft. Wir haben eine wachsende Mittelschicht, es gibt eine wirtschaftliche Entwicklung. Firmen aus aller Welt sind hier tätig, um auf dem Kontinent Geschäfte zu machen. Meine Antwort ist also, dass wir die wirtschaftliche Entwicklung fördern sollten. Junge Menschen sehen also die Chance, in die Entwicklung des Kontinents zu investieren, sei es im Bereich der Landwirtschaft oder der Industrialisierung. Der Kontinent hat den großen Ehrgeiz, sich selbst zu industrialisieren, anstatt Waren und Materialien aus anderen Teilen der Welt zu importieren. Wir wollen sicherstellen, dass wir das, was wir brauchen, auch hier produzieren. Wir wollen essen, was wir hier hergestellt haben, und das erklärt das Wirtschaftswachstum, das wir erleben. Afrika boomt in vielen Teilen des Kontinents. Natürlich, wir stehen vor enormen Herausforderungen und wir können sie nicht unter den Teppich kehren. Aber Fortschritt findet statt, und darüber müssen wir reden. Damit die jungen Menschen klarsehen, dass ihre Zukunft hier ist. Tatsächlich sehen wir sogar in einigen Teilen Afrikas junge Europäer, die hierherkommen. vor allem am Horn von Afrika, sieht man junge Leute, die hier sind, um Geschäfte zu machen. Sie erkennen die Chancen. Und wir wollen, dass sie sie auch ergreifen. Wir investieren zudem viel in die Bildung und in die Berufsausbildung, damit sie die Anforderungen des Arbeitsmarktes erfüllen können, damit sie Arbeit finden, aber auch Unternehmer werden können. Wir versuchen auch, die Möglichkeiten in Kultur und Musik zu verbessern. Sie können sehen, wie viele Länder aufblühen. Ich denke da an Nigeria, wenn es um Musik und andere Bereiche geht. Oder die Textilindustrie. Wenn ich jünger wäre, gäbe es keinen anderen Ort, an dem ich lieber wäre als in Afrika.
GPI: Da sie gerade über die aufkeimende Musikszene sprechen: Wir haben uns angeschaut, was in diesem Jahr auf dem Kontinent ansteht, und ich habe mit Leuten gesprochen, die wirklich hoffen, dass Kunst und Kultur zurückkehren werden. Diese Musikfestivals, die wir in Afrika haben, diese kulturelle Phase, die Menschen nicht nur zusammenbringt, sondern auch eine andere Seite des Kontinents zeigt, eine andere Geschichte, die so wichtig ist, weil wir eine blühende Kunst und Kultur haben. Viele Künstlerinnen und Künstler auf dem Kontinent haben das Gefühl, nicht ausreichend gewürdigt zu werden. Dabei ist das Potenzial aus der Perspektive des wirtschaftlichen Wachstums ja da. Aber zurück zum Thema Migration. Wir haben eine neue Regierung hier in Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD in Partnerschaft mit den Grünen und der liberalen FDP. Und für viele der Abgeordneten wird es das erste Mal sein, dass sie sich in der Regierung auf politischer Ebene mit dem Thema Afrika beschäftigen. Was ist denn Ihre Botschaft als Stimme des Kontinents für jene in der Bundes-Regierung, die nun über die Beziehungen zwischen Europa und Afrika nachdenken müssen?
Touré: Nun, ich würde ihnen raten, zunächst die Realität in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Sie müssen das Narrativ ändern, sich auf die Fakten berufen. Wie ich schon sagte, gibt es rund 250 Millionen internationale Migranten, und Afrika hat nur einen Anteil von 21 Millionen daran. Wir machen 10 Prozent der internationalen Migration aus, und der größte Teil davon ist Binnenmigration innerhalb Afrikas. Mein Aufruf: Lassen Sie also nicht zu, dass der von der extremen Rechten angeheizte öffentliche Diskurs verfälscht wird. Ex-Bundeskanzlerin Merkel war erst vor kurzem in Afrika. So, wie ich sie ich sie verstanden habe, gibt es starke wirtschaftliche Verbindungen, die auf – und ausgebaut werden können, auch mit wissenschaftlichem Austausch an den Universitäten. Und es geht um Kultur. Ich denke also, Afrika ist offen für Geschäfte, aber auf einer Win-Win-Basis. Die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie versuchen, eine nachhaltige Beziehung aufzubauen, eine faire Beziehung. Daher denke ich, dass sie mehr in die Erkundung wirtschaftlicher Möglichkeiten investieren sollten, um in Afrika zu investieren. Die Deutschen sollten Afrika mit anderen Augen sehen, denn es ist ein blühender, ein sehr aktiver und ein junger Kontinent, der versucht, auf der internationalen Bühne Fuß zu fassen. Und wir versuchen, auf das Fachwissen und den Glanz unserer jungen Menschen zu bauen. Das ist ein gewaltiges Kapital.
GPI: Ottilia, lassen Sie uns über Migration sprechen. Der Begriff Migration wird in Afrika und Europa unterschiedlich gewertet. Was genau versteht man jeweils darunter?
Maunganidze: In den meisten Fällen wird Migration in Afrika durch eine demografische und entwicklungspolitische Brille betrachtet. Das bedeutet, Migration ist die Bewegung von Menschen, sei es auf der Suche nach besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten oder einfach, weil sie in eine andere Region wollen. Aus europäischer Sicht sehen wir dagegen zunehmend internationale Migration. Das heißt, die Migration von außerhalb des europäischen Kontinents wird zunehmend unter den Gesichtspunkten der Sicherheit betrachtet. Für Europa bedeutet das, dass die Fragen der Demografie und der Entwicklung zwar auch eine Rolle spielen, aber nicht so sehr wie die Fragen nach Sicherheit und des Zugangs.
GPI: In Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, ist das Thema Migration eher mit Angst verbunden, dem Verlust von Arbeitsplätzen und manchmal auch dem Verlust der kulturellen Identität verbunden. Wie kann man diese Ängste abbauen?
Maunganidze: Ich denke, dass Europa und auch im Rest der Welt nun verstehen sollte, dass Migration etwas Konstruktives ist, sei es in Fragen der Beschäftigung oder auch, im Zuge der Globalisierung, die Förderung einer kosmopolitischeren Gesellschaft. Das soll nicht heißen, dass Fragen der Integration gar nicht auftauchen, und es soll auch nicht heißen, dass die Frage, ob neue Migranten Arbeitsplätze wegnehmen, die sonst Einheimischen vorbehalten wären, nicht thematisiert werden können. Nur, diese Fragen stellen sich nicht nur in Europa, sondern auch hier auf dem afrikanischen Kontinent. Und ich verstehe diese Fragen. Um diese Befürchtungen zu zerstreuen, muss man den Fokus auf den tatsächlichen Nutzen dieser Entwicklung legen. Wir haben gesehen, dass Migration den Handel fördert, ebenso den Transfer von Fertigkeiten und den Austausch von Informationen über die Grenzen von Ländern hinaus. All das trägt zur langfristigen Entwicklung nicht nur von Ländern, sondern auch von Regionen und der Welt bei. Darüber sollten wir sprechen. Es gibt zwar einige berechtigte Bedenken, die man gegen einen hohen Zustrom von Migranten vorbringen kann, aber wir sollten uns mehr auf die Vorteile konzentrieren, die sich aus der Migration auf nationaler, aber auch auf regionaler und globaler Ebene ergeben.
GPI: Der Punkt ist, dass Migration kein neues Phänomen ist, aber ein Grund für die Flucht scheint neu: der Klimawandel. Was ändert das an der Situation und an der Verantwortung des globalen Nordens?
Maunganidze: Nun, da möchte dir doch ein wenig widersprechen. Die Bewegung von Menschen aufgrund klimatischer Veränderungen und Naturkatastrophen ist keineswegs neu. Ein Großteil der Verstädterung auf dem afrikanischen Kontinent wurde von Menschen vorangetrieben, die früher in ländlichen Gebieten lebten, deren Lebensgrundlage jedoch durch Überschwemmungen oder Dürren bedroht war. Die klimabedingte Abwanderung ist also nicht neu. Neu ist vielleicht die Anzahl der Menschen, die vertrieben werden und keine Aussicht auf Rückkehr haben. Die einzige Möglichkeit, die Auswirkungen des Klimas zu bekämpfen, besteht darin, die Auslöser des Klimawandels zu beseitigen. Dies ist ein längeres und vielleicht schwierigeres Thema, weil es um Kohlenstoffemissionen geht. Es geht um die Lastenteilung zwischen Ländern, die in der Vergangenheit stark zum Klimawandel beigetragen haben, und solchen, die daran nicht beteiligt waren. Folgendes müssen wir zur Kenntnis nehmen: je mehr sich unser Klima verändert, umso mehr müssen wir über neue Wege nachdenken, wie wir unsere Städte und unsere Lebensräume nachhaltig gestalten. Das ist zunächst ein längerfristiges Projekt. Bei einem starken Zustrom von Migranten infolge eines Tsunamis, einer Dürre oder einer Heuschreckenplage braucht man dagegen schnellere Reaktionsmechanismen, das heißt, man muss bereits Wohnraum zur Verfügung haben, bevor die Menschen in das Gebiet kommen, und nicht erst bauen, wenn die Katastrophe passiert ist. Vor allem in städtischen Gebieten haben wir gesehen, welch gravierende Auswirkungen das hat. Es ist natürlich einfacher, wenn man bereits eine entwickelte Nation ist, aber unsere Länder hier befinden sich noch in der Entwicklung. Der Bau neuer Unterkünfte für Menschen ist nicht so einfach und kann Zeit in Anspruch nehmen, und es kann zu weiteren Spannungen zwischen den Menschen kommen, die bereits in diesem Gebiet leben, und den ankommenden Migranten.
GPI: Das heißt aber, aufgrund des jüngsten Klimawandels wandern heute mehr Menschen ab, als in der Vergangenheit?
Maunganidze: Das ist schwer zu sagen, denn zumindest aus der Forschung des ISS Instituts geht hervor, dass die meisten Menschen das Klima nicht als Grund für ihre Migration angeben. Es ist also schwierig, die Zahlen genau zu bestimmen. Ein Beispiel: wenn es um extreme Wetterereignisse geht, wie etwa die Wirbelstürme hier im südlichen Afrika, in Ländern wie Simbabwe, Südafrika und Mosambik, da haben die Menschen sofort das Klima als Grund für ihre Umsiedlung anführt. Anders verhält es sich aber, wenn die Auswirkungen des Klimas viel langsamer eintreten. Bei Dürreperioden bleiben viele Menschen so lange wie möglich in ihrer Region. Erst, wenn es gar nicht mehr geht, gehen sie weg. Viele dieser Menschen gaben hier nicht das Klima als Grund ihres Weggangs an. Sie geben dann eher an, dass sie Schwierigkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, z. B. weil sie für ihre Produkte kaum noch Märkte finden. Vom Klima ist dann keine Rede mehr, obwohl auch das Folgen des Klimawandels sind. Das macht es also schwierig. Ich darf an dieser Stelle vielleicht auf ein paar Arbeiten verweisen, die wir zusammen mit Kollegen in Deutschland mit dem Potsdam-Institut für Klimaforschung entwickelt haben; hier geht es um ein Instrument zur besseren Vorhersage, besser gesagt, um Vorhersagen zu kartieren. Man verlässt sich also nicht nur auf Umfragewerte, sondern, betrachtet den stattfindenden Klimawandel, aber auch die Wettermuster und bringt diese Daten dann mit dem Weggang von größeren Menschengruppen zusammen. So wollen wir auf wissenschaftliche Weise verlässliche Angaben entwickeln, warum Menschen eine Region verlassen. Im Moment können wir nur schätzen, dass mehr Menschen aufgrund des Klimas umsiedeln. Aber hoffentlich werden wir das in naher Zukunft mit großer Genauigkeit sagen können.
GPI: Menschen verlassen ihr Land selten freiwillig. Welche Grüne gibt es noch und was müsste vor Ort in den Ländern und Regionen passieren?
Maunganidze: Die Gründe, weshalb Menschen ihre Region verlassen, sind sehr vielfältig. Natürlich gib es jene, die ihre eigene Entscheidung treffen, zu gehen. Aber wie Sie schon sagten, die meisten Menschen tuen das nicht freiwillig. Wir haben bereits über das Klima und den Klimawandel gesprochen, aber auch Konflikte oder schwierige finanzielle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie Gewaltsituationen tragen zu dieser Entwicklung bei. So sehen wir zum Beispiel überall auf der Welt, wo es Konflikte, Gewalt und Kriminalität gibt, dass mehr Menschen aus diesen Zusammenhängen fliehen und ein besseres Leben suchen, wo es friedlicher ist, wo es weniger Gewalt und weniger Konflikte gibt.
GPI: Ein wichtiger Punkt ist: Wie kann die Migration weniger tödlich sein? Was muss passieren, damit weniger Menschen im Mittelmeer, in der Sahara und an den europäischen Grenzen ihr Leben verlieren.
Maunganidze: Die Menschen begeben sich auf gefährliche und riskante Wege, weil die legalen Routen zur Migration sehr restriktiv sind und die Möglichkeiten in der Praxis sehr stark einschränken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die es vorziehen, durch die Sahara zu ziehen oder das Mittelmeer zu überqueren, wenn der Zugang zu legalen Kanälen einfacher wäre. Das würde aber einen Mentalitätswandel in Bezug auf Grenzmanagement und Migration bedeuten, der es den Menschen ermöglicht, sich über legale Kanäle zu bewegen, so dass sie sich die tödlichen Routen und Menschenschmuggel über die Grenzen sparen könnten. Mit einem gültigen Pass, der an legalen Einreisehäfen abgestempelt wird, sollte das machbar sein. Dazu zwei Gespräche, eines auf dem afrikanischen Kontinent und ein weiteres in Europa. Aber davor braucht es ein Gespräch zwischen Europa und dem afrikanischen Kontinent über legale Migrationswege und die Verbesserung des internationalen Schutzes. Das kann Menschenleben retten. Denn, es wird äußerst schwierig sein, die Anzahl von Menschen zu begrenzen, die sich auf gefährliche, oft tödliche Reisen durch Afrika begeben, um dann nach Europa zu gelangen.
GPI: Inwieweit könnte ein Einwanderungsgesetz die Migration für beide Seiten erleichtern und Probleme wie den Fachkräftemangel in Deutschland lösen?
Maunganidze: Sie sprechen da den wichtigen Punkt der Demografie an. Deutschland hat eine alternde Bevölkerung, das Durchschnittsalter liegt bei Mitte 40. Im Vergleich dazu ist der afrikanische Kontinent ein junger Kontinent mit einem Durchschnittsalter von Mitte 20, wobei einige Länder sogar ein sehr niedriges Durchschnittsalter von 19 oder 20 Jahren haben. Das bedeutet, dass der afrikanische Kontinent ein großes Potenzial an Arbeitskräften bietet, das genutzt werden kann. Aber wir müssen es richtig angehen und sicherstellen, dass wir nicht die Probleme haben, die wir vorhin in Bezug auf das Misstrauen gegenüber Migranten diskutiert haben. Bei der Übernahme bestimmter Arbeitsplätze ist zum Beispiel der Transfer von Fähigkeiten erforderlich. Man muss in der Lage sein, die richtige Art von Ausbildung und Austausch zwischen Ländern, aber auch zwischen Kontinenten zu ermöglichen. Wir haben gesehen, dass dies durch die globale Qualifikationspartnerschaft, an der eine Reihe von europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, beteiligt sind, zu gedeihen beginnt. Dabei geht es darum, die Lücken auf dem deutschen Markt zu ermitteln. Braucht Deutschland mehr Fachkräfte in der Krankenpflege, die sich mit Informations- und Kommunikationstechnologie auskennen? Wenn die Antwort ja lautet, steht die nächste Frage im Raum: kann es diese Arbeitskräfte von anderswo bekommen? Und kann der afrikanische Kontinent in der Lage sein, Menschen in diesen Branchen aus- und weiterzubilden? Wir haben bereits Qualifikationen, Transfers und Austausch zwischen Deutschland und Marokko und Nigeria gesehen. Jetzt müssen wir uns bemühen, die verfügbaren Arbeitskräfte vor Ort besser zu identifizieren und herauszufinden, wie sie höher qualifiziert werden können, und zwar in ihrer Heimat. Das ist wiederum ein Gespräch, das in beide Richtungen geführt werden muss. Es kann nicht sein, dass Deutschland einfach sagt, wir brauchen Arbeitskräfte, ohne zu ermitteln, woher diese kommen sollen und ohne Angaben ihrer Qualifikation. Es geht also – und ich wiederhole mich hier – um Konsultation, um Kommunikation, und es geht darum, die Herausforderungen für Deutschland zu bewältigen und gleichzeitig die Belastung für den afrikanischen Kontinent zu verringern. Es kann also eine Win-Win-Situation sein, und sie hat großes Potenzial. Aber damit dies geschehen kann und beide Seiten davon profitieren, muss man sich in den Raum begeben, die benötigten Qualifikationen identifizieren und herausfinden, wie man den richtigen Qualifikationstransfer auf legalen Wegen der Arbeitsmigration sicherstellen kann.
GPI: Ottilia, sehen Sie für Europa aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit eine historische Verpflichtung zur Verantwortung im Bereich der Migration?
Maunganidze: Das ist eine interessante Frage. Jedenfalls nicht, weil der afrikanische Kontinent im Vergleich zu Europa nach wie vor unterentwickelt ist, sondern, weil dieser Fakt sehr viel mit der Geschichte des Kolonialismus zu tun hat. Auch die Geschichte der Apartheid oder die mineralfördernde Industrie gehören hier dazu. Der Punkt ist, dass Afrika eine Quelle des Reichtums für den europäischen Kontinent ist, etwa in Form von Bergbaugütern, aber auch in Form von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. In Afrika erwirtschafteter Wohlstand für Europa, von dem der afrikanische Kontinent selbst nichts hat. Es besteht also nicht nur die Notwendigkeit, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch die derzeitige Rohstoffindustrie, die auf dem afrikanischen Kontinent tätig ist, so zu reorganisieren, dass Mittel dem afrikanischen Kontinent selbst auch zugutekommen. Auch hier müssen die einzelnen Länder, die früher Kolonialherren waren und noch immer auf dem afrikanischen Kontinent tätig sind, eine gewisse Verantwortung übernehmen. Das soll nicht heißen, dass es auf afrikanischer Seite nicht auch eine Verpflichtung und eine Verantwortung gegenüber den Bürgern gibt, die Entwicklung zu fördern und sicherzustellen, dass wir diese Entwicklung auch beschleunigen; denn es kann nicht nur an Europa allein liegen, die Herausforderungen auf dem afrikanischen Kontinent anzugehen. Der Weg in die Zukunft muss auch von den Menschen vor Ort getragen werden. Und um das zu erreichen, muss auch auf dem afrikanischen Kontinent eine Selbstreflexion stattfinden. Aber, eben auch Europa muss seine Verantwortung für Wiedergutmachung und Wiederherstellung anerkennen.
GPI: Ottilia, lassen Sie uns zum Schluss auf die neue deutsche Regierung zurückkommen. Welche Forderungen haben Sie in Bezug auf die Migrationspolitik?
Maunganidze: Erstens geht es um die Einsicht, dass eine allein auf Sicherheit ausgerichtete Migrationspolitik mehr unbeabsichtigte negative Folgen hat, als dass sie eine angemessene Steuerung der Migration gewährleistet. Es muss ein Umdenken in Bezug auf die Verlagerung von Sicherheitsmaßnahmen auf den afrikanischen Kontinent stattfinden, da dies sowohl die Freizügigkeit als auch den Handel beeinträchtigt. Das Ergebnis ist eine Unterentwicklung des afrikanischen Kontinents. Deutschland ist zwar eines der europäischen Länder, die sich nicht so sehr für eine Politik der Sicherheit eingesetzt haben, hat aber jetzt die Möglichkeit, sich mit Nachdruck gegen eine Politik der Sicherheit zu wenden. Zweitens geht es um Arbeit, um den Transfer von qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften und darum, dass Deutschland und seine Partner auf dem europäischen Kontinent legale Wege der Arbeitsmigration fördern. Auf diese Weise können wir den Menschenhandel und die Schlepperei eindämmen und eine sicherere und geordnetere Migration schaffen. Und schließlich geht es darum, ein Gespräch mit Deutschlands Nachbarn zu führen, und ich sage Deutschlands Nachbarn, weil Deutschland keine Grenze zu Afrika hat. Es hat auch keine Grenze mit dem Nahen Osten. Aber wir wissen, dass viele Menschen durch Deutschlands Nachbarländer nach Deutschland kommen werden. Wir müssen also mit unseren Nachbarn und auch mit Afrika, dem Nahen Osten und dem asiatischen Raum konstruktive Gespräche darüber führen, wie wir den Transfer von Arbeitskräften sicherstellen können, ohne die Entwicklung der Länder zu untergraben, aus denen die Menschen kommen. Wir können weniger Migration, aber auch bessere Migration sehen. Es liegt also im Interesse Deutschlands, eine sichere, regelmäßige und geordnete Migration zu fördern. Es liegt auch in Deutschlands Interesse, den internationalen Schutz und den Transfer von Qualifikationen zu gewährleisten, damit dies nicht nur eine Einbahnstraße ist.
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Ansprechperson:
Judith Ramadan, Project Management
j.ramadan@globalperspectives.org
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